Integration und Erziehung
Mein Spagat zwischen Mittelalter und dem 21. Jahrhundert
Wenn Erziehung kontextabhängig ist und unter Erziehen die Weitergabe dessen verstanden wird, was man selber mit auf seinen Weg bekommen hat, dann stellen sich für mich als Migrantin mitten im deutschen Kulturkreis folgende Fragen:
- Wie schaffe ich es mein Kind in einem Kulturkontext zu erziehen in welchem ich selber nicht aufgewachsen bin und deren Konturen ich deshalb selbst noch nicht ganz durchblicke?
- Wie schaffe ich es vor diesem Hintergrund mein Kind dazu zu bringen, den an es von der deutschen Gesellschaft gesetzten Erwartungen gerecht zu werden, wenn die Erziehungsnormen und die Erziehungsmethoden mir fremd sind?
- Also wie kann ich meinem Kind durch Erziehung beibringen, wie es sich in der deutschen Gemeinschaft, in der es aufwächst, zu Recht findet, wenn ich selber noch nicht einmal weiß, wie ich mich in der deutschen Gemeinschaft zu Recht finde?
- Wo führt es hin wenn ein Ignorant versucht einen anderen Ignorant aufzuklären? Ein Sprichwort sagt folgendes: „Führt ein Blinder einen anderen Blinder, landen sie in einem Graben.“ Bin ich deshalb verurteilt bei der Erziehung zu versagen?
Wenn man als Erwachsene das Elternhaus verlässt, ist man zwar noch lange kein fertiges Produkt, denn das Leben und die Gesellschaft uns weiter bis zum Ableben erziehen. Dennoch hat man ein Grundfundament bekommen, aus dem man später bei der Erziehung seiner eigenen Kinder schöpft. Das Grundfundament, das ich mit auf meinen Weg bekommen habe, beinhaltete hauptsächlich die Werte wie beispielsweise Disziplin, Ordnung, Toleranz, Respekt vor den Älteren, Bescheidenheit, Selbstlosigkeit, Nächstenliebe, Hilfebereitschaft und Selbständigkeit. Ich hatte jedoch nicht nur diese Werte verinnerlicht, sondern auch die Erziehungsmethoden, die zu dieser Verinnerlichung führten. Diesen sahen vor, dass alle Mittel gut waren, die dazu halfen aus Kinder würdige Mitglieder der Gemeinschaft zu machen. Dass mir die genannten Werte heilig sind, steht außerhalb der Diskussion. Die Frage ist eher wie ich meinen Kindern diese Werte in einer Gesellschaft beibringe, für die bei der Erziehung nicht alle Mittel recht sind.
Ich wusste, dass Erziehung nur durch Härte und große Distanz zu den Kindern möglich ist, bis ich nach Deutschland kam. Ich war überzeugt davon, dass Erziehung jede Art von Strafe, Demütigungen und Folter zuließ.
Diese Erziehungsmethoden wurden nicht nur privat im elterlichen Haus ausgeführt, sondern auch in der Schule. Dort waren sie noch erbarmungsloser. Wurde man beim Schwätzen erwischt, benutzte man Schimpfwörter, vergaß man seine Hausaufgaben, erzielte man eine schlechte Note, prügelte man sich, musste man erbarmunglose Strafen über sich ergehen lassen. Je nachdem wie der Lehrer gelaunt war, musste man mal eine Strecke von etwa fünf hundert Meter im Schulhof in Knien absolvieren, auf der zuvor extra kleine Kieselsteine zerstreut wurden, mal musste man stundenlang mit ausgebreiteten Armen knien auf denen jeweils ein Stein von ungefähr fünf hundert Gramm gelegt wurde. Als wäre dies noch nicht Strafe genug, musste man obendrauf darauf achten, dass die Armen gerade blieben. Sank ein Arm, rief die Peitsche wieder zur Ordnung. Es spielte keine Rolle, ob die Tränen den Wangen herunter kullerten, ob der Rotz aus der Nase in den Mund hinein lief, ob der Urin langsam durch die Beine floss und der nicht mehr zu unterdrückende Stuhlgang eintrat. Es gab keine Gnade. Solange die für die Strafe festgelegte Stundenanzahl noch nicht verbüßt war, konnte man Tod umfallen und es hätte den Lehrer nicht gejuckt. Mal war einfach nur die körperliche Züchtigung dran.
Alles war normal, alles Gang und Gäbe. Alles ein Liebesbeweis. Denn wer liebt der bestraft und züchtigt. Und je härter die Strafe desto tiefer und großer die Liebe. Um diese Erziehungsmethoden zu rechtfertigen, nahm man uns sogar Gott als Vorbild, der seinen Sohn Jesus so sehr geliebt hatte, dass er ihn kreuzigen ließ, obwohl er die Macht dazu gehabt hätte dies zu verhindern. Ich wusste insofern, dass ich meine Kinder lieben werde, also werde ich sie hart bestrafen müssen. So jedenfalls ist es Brauch bei mir Zuhause. Es gab keine Beschwerden, es wurde nie widersprochen, es wurde nicht diskutiert. Es wurde lediglich gehorcht. Bei mir Zuhause hatten Kinder keinerlei Rechte. Dafür verkörperten die Erwachsene das Recht und das Gesetz gleichzeitig und hatten damit bei der Erziehung einen großen Spielraum. Sie wussten immer, was für ihre Kinder gut war, sie wussten immer wie es ihren Kindern ging, obwohl sie sich nie danach erkündigten.
Nicht Kuscheln, Schmusen und Geschenke, sondern Prügel, Peitsche, Folter und harte Strafen galten als Liebesbeweis schlechthin.
Dann strandete ich in Deutschland, wo ganz andere Gesetze herrschen. Im Unterschied zu meinem Zuhause verkörpern hier nicht die Eltern das Recht und das Gesetz, was die Erziehung angeht, sondern die Kinder. Ehe ich mich versah war ich selbst bereits Mutter. Mutter zwei kleiner Kinder. Sie darf ich nun auf das Leben gemäß der deutschen Gemeinschaft vorbereiten. Aber immer wieder finde ich mich in Situationen verstrickt, in denen ich das Gefühl habe, die Rollen hätten sich vertauscht. Wer erzieht hier eigentlich wen?